INTENDANZ

MICHAELA BARCHEVITCH

Geschäftsführende Intendantin

Gedanken zur Spielzeit 2022 / 2023

„Ihr fürchtet, dass die Umsturzepoche, vor der wir zu stehen glauben,
alle Kunst und Poesie, alles Schöne und Wertvolle im Leben vernichtet?
Ich fürchte das nicht. Denn mag jeder Tempel zertrümmert, jedes Kunstwerk verbrannt, jedes Saitenspiel zerschmettert werden – das unantastbare ­Saitenspiel, das ­Menschenherz, wird nie aufhören, von den ewigen Melodien
zu tönen, die der Geist der Welt ihm zuhaucht.“

Christian Morgenstern (1871 – 1914)

Das Weltgeschehen und die Turbulenzen der vergangenen Monate haben viele Fragen aufgeworfen, die im alltäglichen Leben – trotz ihrer dringenden Präsenz und Aktualität – wenig hervortreten, uns aber in ihren Schattenbildern stets daran erinnern, mit welcher Fragilität wir es in unserer ansonsten recht harmonischen Welt zu tun haben. Anscheinend Selbstverständliches haben wir neu schätzen gelernt, die allgemeine Unsicherheit wird zunehmend spürbar – und auch wir blicken vielen Auswirkungen, die das Konzertleben beeinflussen, mit Respekt und Demut entgegen. Den Optimismus und die Überzeugung Christian Morgensterns empfinden wir im philharmonischen Kollektiv als Gleichklang mit unserem eigenen Auftrag.

Die Frage nach dem Ursprung und den Gesetzen der Harmonie ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Unsere Welt harmonierend in Balance zu halten, ist ein gestalterischer Prozess, an dem wir alle gleichermaßen beteiligt und für dessen Ausgang wir als Weltgemeinschaft substanziell verantwortlich sind.

Die Aufgabe der Kunst ist es, das Licht in die dunklen Ecken, in die tiefen Risse und unsichtbaren Winkel zu richten, die vom routinierten pulsierenden Lauf des gesellschaftlichen Lebens verdeckt sind und dadurch nur am Rande wahrgenommen werden. Dazwischen entsteht Raum für Diskurs, Annäherung, Dialog, Respekt, Toleranz, Neugier und Offenheit für Menschen anderer Kulturen oder für neue Sichtweisen und Erkenntnisse. Die scheinbare weltliche Disharmonie reiht sich dann in einen harmonischen Zustand – ein Prozess, den Menschen von Natur aus instinktiv gestalten, um nach (zwischenmenschlicher) Harmonie zu streben.

Inmitten aller Gegensätze und Widersprüche des Lebens entfaltet Kunst und Musik stets ihre kraftvolle Wirkung. Auch unsere Konzerte bieten einen Raum, in dem die tiefen emotionalen Sphären, Potentiale und Reservoire unserer menschlichen Seele durch künstlerische Sensibilität angeregt werden. Wenn der Geist offen ist, sind wir bereit, Musik und Kunst zur eigenen persönlichen Energiequelle werden zu lassen, zum Brunnen der Harmonie und Selbsterkenntnis, aus dem wir neue Kraft schöpfen können.

Das diesjährige Spielzeitmotto „Harmonie[n] der Welt“ steht demzufolge nicht nur symbolisch für die harmonische Wirkung der Musik auf unser Leben und unsere Persönlichkeit, sondern es ermöglicht die Auseinandersetzung mit einem breiten Spektrum an Themen, die unser gesellschaftliches Leben begleiten.

Als Inspirationsquelle für die inhaltliche künstlerische Gestaltung diente uns die Sinfonie von Paul Hindemith „Die Harmonie der Welt“ – ein musikphilosophisches Werk, dessen Titel Hindemith den berühmten „Fünf Büchern über die Weltharmonik“ entlehnte, die der Mathematiker, Astronom und Naturphilosoph Johannes Kepler 1619 veröffentlichte. Kepler suchte sein Leben lang nach dem Gesetz über den gesamten Aufbau des Sonnensystems sowie den Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die „die Welt im Innersten zusammenhälten“. Dabei verfolgte er die Idee, dass die dem göttlichen Schöpfungsplan zugrunde liegende Harmonie sich – wie im Fall der Harmonie in der Musik – in einfachen Zahlenbeziehungen auffinden lassen müsse. Seine Erkenntnisse und Gesetze definierte er in mehreren Büchern, darunter im Werk „Harmonice Mundi“. Das philosophisch-wissenschaftliche Gesamtwerk, das mit seinen komplexen Berechnungen und Thesen in den „Keplerschen Gesetzen“ gipfelte, diente uns als Grundlage für die Gestaltung des Leitmotivs dieses Spielzeitheftes.

Neues entsteht immer aus dem Moment heraus, aus dem kreativen Umgang mit Chancen, selbst in Krisenzeiten. Auf eine intensive und ereignisreiche Spielzeit 2021/2022 rückblickend, erinnern wir uns einerseits an spannungsvolle Situationen und Tage, die von Einschränkungen und konstanten Änderungen im künstlerischen Betrieb geprägt waren – dadurch haben wir unsere Planungsprozesse umgestellt und manche Konzertprogramme buchstäblich „über Nacht“ konzipiert, um beweglich und anpassungsfähig zu bleiben, kurzum: um weiterhin für Sie spielen zu können!

Andererseits begleiteten uns dabei aber auch stets Hoffnung, Freude, aufbauende Gespräche, Enthusiasmus und der Willen, die Kontinuität zu behalten, verbunden mit dem Mut zu Neuem und der Eigenschaft, in schweren Momenten zusammenzustehen. Für diesen harmonischen Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung möchte ich meinem gesamten philharmonischen Kollegium an dieser Stelle meine Hochachtung und herzlichen Dank aussprechen.

Sie, liebes Publikum, begleiten unsere Philharmonie oftmals schon seit vielen Jahren und sind dem Orchester und seinen Konzerten in großer Treue verbunden. Dafür sei Ihnen von Herzen gedankt. Wir freuen uns sehr über diese intensive Unterstützung und auch über die vielen Menschen, die den Weg neu zu unseren Konzerten finden. Ohne Sie als begeistertes und begeisterungsfähiges Publikum würde unsere Konzertarbeit keinerlei Sinn stiften. Die enorme Zustimmung, die wir in den vergangenen zwei Jahren erhielten, ermutigt uns, diese neue Arbeitsweise beizubehalten und künftig Konzerte, deren Programme kurzfristig auf aktuelle Themen Bezug nehmen, kontinuierlich flexibel zu gestalten. Über all diese Neuigkeiten informieren wir Sie auf unserer Website sowie auf Facebook und Instagram.

Eine Ouvertüre, ein Solokonzert und eine Sinfonie: Dieser klassische Dreiklang, prägend für den Abend im Konzertsaal, ist eine der Harmonien in den Programmen unserer Philharmonie, aber längst nicht der bestimmende Faktor. Der Blick in die Spielzeit 2022/2023 zeigt, in welchem Maße künstlerische Inhalte durch eine innovative Programmgestaltung neu auf die Konzertbühne gebracht werden können.  Sie dürfen sich wie gewohnt auf viele internationale Stars freuen, angehende junge Virtuosinnen- und Virtuosen, auf große Sinfonien von Brahms, Beethoven, Schumann, Schostakowitsch oder Sibelius. Wir präsentieren Ihnen Hindemiths „Harmonie der Welt“ und die „Symphonie Fantastique“ von Berlioz, um nur einige der Meisterwerke zu nennen. Wir freuen uns auch über Ihre Offenheit und Neugier, die uns kontinuierlich darin bestärken, Ihnen zeitgenössische Neuentdeckungen, musikalische Kontraste und neue Zusammenhänge vorzustellen. Außerdem präsentieren wir Ihnen im Rahmen der Sinfoniekonzerte erneut bemerkenswerte Uraufführungen.

Bei Planung der großen Sinfoniekonzert-Reihe mit Chefdirigenten Markus Huber, lag unser konzertdramaturgischer Fokus eines jeden Programms in einem sensiblen und harmonierenden Miteinander der einzelnen ausgewählten Werke. Bereits die einzelnen Konzert-Mottos stimmen auf die inhaltlichen Themen ein. Diese sind oft sehr unterschiedlich, haben aber alle eines gemeinsam: Mit jedem Programm laden wir Sie zu einer Entdeckungsreise durch die stilistische Vielfalt und Schönheit ausgewählter sinfonischen Meisterwerke ein. Es ist erstaunlich, wie vielen Parallelen zum alltäglichen Leben wir in den Konzerten begegnen. Gemeinsam werden wir unterschiedliche Harmonien der (Musik-)Welten erkunden, die in uns spontan ein vertrautes und harmonisches Gefühl auslösen. Oft werden wir dabei eine Begegnung mit ungewohnten und uns auf den ersten Blick sogar fremd vorkommenden Elementen erleben. Doch nach dem ersten Kennenlernen werden wir diese vermeintlich disharmonischen Zusammenhänge langsam wieder in den Kanon des Bekannten, Vertrauten und Harmonischen einschließen.

Der Klang der menschlichen Stimme ist der Ursprung von Sprache und Musik. Es erfüllt mich mit Freude, mit Valer Sabadus einen weltweit gefeierten Countertenor als „Artist in Residence“ für unsere Spielzeit gewonnen zu haben. Im Rahmen der neuen „Barock ImPuls“-Konzertreihe werden wir diesen phänomenalen Künstler von Weltruhm und seine faszinierende Stimme in drei ganz unterschiedlichen Produktionen im Ekhof-Theater, im Palas auf der Wartburg sowie beim Friedenstein Open Air erleben können.

Die Pflege der barocken Musiktradition Thüringens an deren geschichtsträchtigen historischen Orten gehört zur festen Identität der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach. Gemeinsam mit unserem einzigartigen Barockorchester sowie Valer Sabadus, Midori Seiler, Maurice Steger, Michael Hofstetter und weiteren renommierten Künstlerinnen und Künstlern werden wir erneut die faszinierenden Harmonien der Barockwelten erforschen und dabei auch einige Neuentdeckungen präsentieren.

Ein neuer Schwerpunkt unserer Konzertplanung ist insbesondere mit dem Ort verbunden, an dem 1651 alles begann: das Schloss Friedenstein und sein Ekhof-Theater. In einer erstmaligen Koproduktion mit dem Erfurter Theater Waidspeicher werden wir in einer Doppelpremiere im Ekhof-Theater und im Theater Waidspeicher das Bühnenstück von Carlo Goldoni „Der Diener zweier Herren“ realisieren.

Glücklich bin ich auch über die Fortsetzung unserer musikpädagogischen Arbeit mit mehreren wunderbaren Jugend-Musikprojekten in Kooperation mit zahlreichen Bildungspartnern aus der Region.

Aus der Not heraus, in kleineren Besetzungen und meistens Open-Air spielen zu müssen, sind viele neue Kammermusikformationen entstanden. Die Distanz, die wir zueinander halten mussten, sensibilisierte die gegenseitige Aufmerksamkeit, wir verfeinerten unser kammermusikalisches Spiel. Daraus resultierend entstand ein neues Konzertformat, um Kammermusik im besonderen Rahmen zu ermöglichen: Im Landestheater Eisenach starten wir mit sechs bereits terminierten Konzerten. Über die Konzerttermine in Gotha und an besonderen Orten in Westthüringen werden wir Sie im Laufe der Spielzeit kontinuierlich informieren.

Zur Realisierung unseres Jahresprogramms bedarf es nicht nur herausragender Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Sparten, sondern auch einer zuverlässigen und inspirationsreichen Kooperation mit den hiesigen Partnern. Vor allem die thematischen Schwerpunkte und Sonderprojekte bedeuten eine wertvolle Bereicherung des regionalen Kulturlebens. In partnerschaftlicher Zusammenarbeit werden mit den beiden evangelischen Kirchengemeinden in Gotha und Eisenach, der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, dem Interkommunalen Kulturnetzwerk Eisenach-Wartburgkreis, der KulTourStadt Gotha oder dem Kulturamt Eisenach eine Vielzahl von Veranstaltungen realisiert: das Sinfonische Wochenende, der Eisenacher Kompositionspreis, die Thüringen Liszt-Biennale 2023, diverse Chorprojekte und unsere populäre Reihe der „Philharmonischen Sommerkonzerte an besonderen Orten“.

Als musikalischer Partner des Landestheater Eisenach ist unsere Philharmonie bei zwei Ballett-Premieren und einer Wiederaufnahme zu erleben. Im Rahmen der Kooperation mit dem Theater Erfurt beteiligen wir uns an drei Musiktheater-Produktionen und unterstützen das Sinfonische Orchester Erfurt bei zwölf Sinfonie- und Expeditionskonzerten. Neben den vielen Konzerten an unseren zahlreichen regionalen Spielorten, dürfen wir wieder national und international als klingender Botschafter Thüringens, des Landkreises Gotha und des Wartburgkreis sowie der beiden Städte Gotha und Eisenach agieren. Konzertreisen führen uns u.a. in die Tonhalle Zürich, in die Alte Oper Frankfurt, nach Berlin, Bayreuth und Wiesbaden.

Die Arbeit der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach wäre ohne finanzielle und ideelle Unterstützung nicht möglich. Mein Dank gilt unseren institutionellen Förderern, dem Freistaat Thüringen, dem Landkreis Gotha, dem Wartburgkreis und den Städten Gotha und Eisenach. Ein herzlicher Dank gilt ebenfalls unserem Hauptsponsor Kreissparkasse Gotha für die langjährige Unterstützung im Bereich der musikpädagogischen Arbeit und unserem „Trägerverein der Freunde und Förderer der Thüringen Philharmonie e.V.“ für das unermüdliche ehrenamtliche Engagement.

Ich glaube an die identitätsstiftende Kulturarbeit unserer Philharmonie und vertraue darauf, dass sich unser Spielzeitmotto in vielfältigen persönlichen und musikalischen Begegnungen manifestieren wird. Mit neuer Energie wollen wir einen kraftvollen und frischen Esprit in die Region bringen, zum nachhaltigen Dialog anregen und zu einem harmonischen Miteinander beitragen.

Wir wünschen uns viele neue musikalische wie auch persönliche Zusammenkünfte mit Ihnen und hoffen, dass wir mit unseren Konzerten den Weg zu Ihren Herzen finden mögen und gemeinsam mit Ihnen den „harmonischen Geist der Welten“ erfühlen können. Sie, liebes Publikum, bleiben das Ziel unseres Auftrags und der Ansporn, Musik zum Erlebnis zu machen!

Im Namen des gesamten Kollegiums der Thüringen Philharmonie

Ihre Michaela Barchevitch